Tu’s aus Liebe – der Nationale Radverkehrskongress 2015 in Potsdam

Das war er nun, der 4. Nationale Radverkehrskongress in Potsdam. Eine Retrospektive auf zwei Tage politische Realität des Fahrrads – garantiert unvollständig und subjektiv:

100 Millionen – 70 Millionen – 100 Millionen – wer sieht die Steigerung?

Angefangen hats mit der spärlich besuchten Eröffnungs-Pressekonferenz u.a. mit Rainer Bomba, Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium – BMVI. Ihm hatte der abwesende Verkehrsminister Dobrindt offenbar aufgetragen, die Erhöhung der Bundesmittel für den Radwegebau an Bundesstraßen und Bundeswasserstraßen auf 100 Millionen pro Jahr als ein klares Bekenntnis zum Radverkehr zu verkaufen. Nun, nichts gegen 100 statt 70 Millionen, aber: 100 Millionen waren es schon seit 2002, bis das Budget vor wenigen Jahren gekürzt wurde. Und wichtiger noch, es war schon immer deutlich zu wenig. Zu Recht fordert der ADFC 400 Millionen! Ansonsten lobte Bomba die weiter hohen Verkaufszahlen bei E-Rädern (2014 480.000 Stück) und sprach in diesem Zusammenhang von einer „stillen Revolution zum Fahrrad“. Ein schöner Ausdruck. Ganz besonders still bei dieser Revolution ist die Leitungsebene des BMVI. Denn außer dem Versuch, den Erfolg von E-Rädern irgendwie in den Zusammenhang mit der eigenen E-Mobilitätspolitik zu bringen, kam vom Ausrichter des Kongresses nichts Wesentliches mehr in puncto Verkehrspolitik – außer vielleicht das neue Plakat für eine weitere sinnfreie pro Helm-Kampagne, das auf dem Hof stand und von dem ein oder anderen als humorvolle Foto-Kulisse genutzt wurde (siehe Bildstrecke unten, oder etwas nackter hier). Manch eine*r wünschte sich im Stillen, das BMVI würde durch beherzten Einsatz für sichere Infrastruktur die Diskussion um Helme unnötig machen, weil es dann einfach sicher wäre, Rad zu fahren – in Holland und Dänemark geht das schließlich auch (mehr zur Helmfrage im e-Rad Hafen hier und hier).

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Foren am Montagnachmittag

In – mit vielen Bekannten aus der Radszene – kompetent besetzten vier parallelen, Foren ging es dann ran an das Thema des Kongresses „verbinden – verknüpfen – vernetzen“ (Programm hier). Ich hörte mir in den beiden Win-Win Situationen u.a. Details zum Zusammenhang von Luftreinhaltung und Radverkehr an (Mark Lawrence vom IASS); zu Chancen von Fahrrädern im Wirtschaftsverkehr (Johannes Gruber, WIV Rad des DLR); zum betrieblichen Mobilitätsmanagement bei der GIZ (deren Referent Stefan Pohl sagte, die GIZ betreibe „Entwicklungshilfe“  – ein Begriff der an sich seit langem nicht mehr verwendet wird, denn es geht um „internationale technische Zusammenarbeit“ oder „Entwicklungszusammenarbeit„); zum bitter notwendigen Verkehrskonzept für 90.000 Angestellte am Frankfurter Flughafen zwischen Frankfurter Kreuz und Kilometer langen Landebahnen (der Status quo ist ein Desaster wie Referent Georgios Kontos, vom Regionalverband Frankfurt Rhein Main deutlich machen konnte) und zur Initiative von UPS, Lastenfahrräder in der Zustellung einzusetzen, wie etwa in Hamburg (Lars Purkarthofer).

Der Deutsche Fahrradpreis 2015

Nach den Foren am Nachmittag, ging es dann in den Hauptsaal zur Verleihung des Deutschen Fahrradpreis. Norbert Barthle, Parlamentarischer Staatssekretär beim BMVI begrüßte den Saal, dann übernahm die eloquente Jessy Wellmer die Moderation. In der Kategorie „Service“ wurde das Projekt „Fahrräder für Flüchtlinge“ des ADFC-Saarland ausgezeichnet. Stellvertretend für viele ähnliche Initiativen ein starkes und aktuell sehr relevantes politisches Signal. Die großartige Nordtrasse in Wuppertal gewann den ersten Preis im Bereich „Infrastruktur“ – für mich wegen der herausragenden Beteiligung der Bevölkerung aber auch wegen Qualität und Länge des Radweges ein tolles Projekt. Den zweiten Platz gewann das High-End „Radhaus Offenburg“. Im Bereich Kommunikation gewann die Stadt Karlsruhe mit „Tu’s aus Liebe“ den ersten Preis – hier gefiel, dass alle Verkehrteilnehmer*innen egal, ob auf dem Rad oder im Auto mit humorvollen Aktionen zu (vermeintlich) sicherem Verhalten animiert wurden, bspw. zum Schulterblick im Auto oder zum Helm tragen auf dem Fahrrad (daher das vermeintlich). Den zweiten Platz gewann das Projekt „Lasten auf die Räder!“ – hier ging es darum, das Fahrrad in Bereiche und an Orte zu bringen, in denen es bisher kaum vorkam – z.B. auf die IAA Nutzfahrzeuge in Hannover 2014. Alle Preisträger in der Übersicht hier.

Den Preis für die Fahrradfreundlichste Persönlichkeit bekam der Tübinger OB Boris Palmer. Highlight seiner Dankesrede: Bei der üblichen Begrüßung der politischen Schwergewichte in der ersten Reihe begrüßte er auch den „Bundes(Verkehrs)minister in Abwesenheit“.

Fazit: Alles in allem sehr gute Preisträger. Preisträger, die symbolisch für eine nach vorne gerichtete Fahrradszene mit guten und ehrgeizigen Ideen stehen.

Dynamik erst ganz am Ende

Pünktlich um 9 ging es am nächsten Tag weiter – Bernhard Ensink (Secretary General des ECF) sprach in einem der drei Foren über die große Bedeutung von Fahrradbotschaften in Dänemark und Holland – woraufhin die Zuhörenden erfuhren, dass es auch in Deutschland eine Initiative für die Gründung einer Fahrradbotschaft gibt (Nachtrag: Bilder von der Eröffnug der Botschaft, die einige Wochen später statt fand gibt es hier hier) mehr dazu  hier. Es folgte das Abschlussplenum, bei dem zunächst die Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundliche Kommunen Brandenburg gegründet wurde (AGFK Brandenburg). Vertreter*innen von 13 Kommunen und ein Scheck über etwas mehr als 100.000 Euro bevölkerten die Bühne. Die Stimmung war gut. Das war schön, es bleibt abzuwarten, ob die Brandenburger AGFK eine der aktiven sein wird. Sinnvoll ist der Versuch allemal!

Dramaturgisch gelungen wurde es auf der Zielgeraden noch mal kontrovers. In der Diskussionsrunde mit Dr. Veit Steinle (BMVI), Katrin Lange (Staatssekretärin Brandenburg), Prof. Dr. Stephan Rammler (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig), Andrea Reidl (Autorin des Zeit-Online Blogs velophil) und Reiner Nagel (Bundesstiftung Baukultur) gab es neben Konsens auch einige wichtige Differenzen: Zunächst stellte Andrea Reidl fest, dass in Deutschland Menschen häufig eher „trotz als wegen der Infrastruktur“ Rad fuhren. Auf den Hinweis von Hr. Steinle (Anm.: in der Folge sinngemäße Wiedergabe der Ausführungen, sofern nicht in „Anführungszeichen“), dass könne man so pauschal nicht sagen, es gäbe ja auch Fahrradstädte wie Münster mit langer Tradition und guten Bedingungen, erwiderte sie, Münster habe zwar auch gute Anlagen, es sei aber insgesamt erschreckend, dass die deutsche Vorreiterstadt über viele Radwege verfüge, die „kaum breiter als ein Fahrradlenker“ seien. Lautes Klatschen machte deutlich, dass auch die meisten Zuhörenden nicht mit Schönreden von infrastrukturellem Mittelmaß einverstanden waren. Eine Runde später ging es dann um die Frage, wie denn die Vision für die Zukunft der Mobilität aussähe – Herr Steinle vom BMVI erklärte, man werde in Zukunft je nach Wegezweck dort, wo es sinnvoll ist mit dem Auto unterwegs sein und wo es „notwendig“ sei mit dem Rad. Der Markt werde das letztlich regeln. Mir war der Kopf schon fast auf die Brust gesunken, denn derartige Ausführungen machen mich müde. Herr Rammler dagegen war überhaupt nicht müde – dass, was Herr Steinle da gerade als akzeptables Szenario beschrieben habe, stellte er trocken fest, sei von allen denkbaren der „Worst Case“. In einem über Jahrzehnte Auto orientierten System herrsche keine Chancen-Gleichheit zwischen Rad, Auto und Bahn, für den notwendigen Paradigmenwechsel brauche es das Primat der Politik – ein Mix aus Push and Pull, Förderung nachhaltiger Mobilität und Sanktionierung des privaten Autos. Statt heute noch Autobahnen wie die A9 (oder die A100 in Berlin) auszubauen, solle man lieber gute Radinfrastruktur fördern.

In seiner Abschlussrede bedankte sich Norbert Barthle vom BMVI dann bei der Stadt Potsdam und er Agentur p3 für die Ausrichtung und Konzeption des Kongresses und bat den OB der Stadt Mannheim auf die Bühne, um ihm eine Fahrradklingel zu überreichen. In Mannheim wird 2017, zum 200. Geburtstag des Fahrrads der nächste Kongresses stattfinden. Komischer Weise vergaß er seinen eigenen BMVI-Kolleg*innen für deren Arbeit zu danken – dabei war der Kongress organisatorisch absolut top…. Aber irgendwie war es zwar der Kongress des BMVI aber gleichzeitig war er es auch überhaupt nicht. Es wird wohl immer noch eine Weile dauern, bis man im Verkehrsministerium sagt: „Fahhradförderung?“ „Ich tu’s aus Liebe!“.

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Nationaler Radverkehrskongress 2013 – gemischte Eindrücke

In Münster fand gestern und heute der 3. Nationale Radverkehrskongress statt. Dabei wurde auch der Deutsche Fahrradpreis (in verschiedenen Kategorien) verliehen.

Wichtiges Event – Ramsauer sprach

Bezüglich Entwicklungen in Politik und Forschung, Regelwerk oder neuen Trends ist der Kongress das wohl wichtigste Fahrradevent des Jahres in Deutschland. Ein bisschen ist er daher auch ein Gradmesser für die Fahrradszene und die politische Bedeutung des Radverkehrs allgemein. Aus dieser Sicht ist die Tatsache, dass Minister Ramsauer, dessen Ministerium den Kongress veranstaltete, den Kongress eröffnete als positiv zu werten.

Der Inhalt der Eröffnungsrede gab allerdings wenig Grund zur Euphorie – woher auch? Ramsauer betonte das Engagement des BMVBS im Radverkehr und dass man mit ca. 70 Mio. jährlich für Radwege an Bundesstraßen auch einen „Batzen Geld“ ausgebe. Dazu wies er daraufhin, dass E-Räder eine neue großartige Entwicklung seien und das Fahrarrad zum Teil der E-Mobilität machen würde, das habe er bis vor wenigen Jahren nicht gesehen – leider schlägt sich auch diese Aussage weder in den Modellregionen noch in den Schaufensterregionen nieder – Pedelecs werden bei der umfangreichen Förderung von E-Mobilität weiterhin fast vollständig ignoriert. Und dass 70 Millionen ein „Batzen Geld“ sind, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, im Verkehrsbereich sind es dennoch Peanuts und wichtiger noch: Es reicht nicht aus für die wichtige Bundsesaufgabe „Ausstattung der Bundestraßen mit Radwegen“, dafür wären laut einer für den NRVP 2020 erstellten Studie jährlich 224 Millionen nötig – dann hätten in 20 Jahren 70% der Straßen einen Radweg (derzeit sind es 40%).

Nach seiner Rede wurde der Minister in einer etwas skurrilen „Guerilla-Aktion“ mit dem goldenen Klappspaten ausgezeichnet. Allerdings kritisierte „NDR-Aktivist“ Tobias Schlegl, der kurzerhand ans Rednerpult sprang, leider nicht die Radpolitik Rausauers, sondern sein Versagen bei Stuttgart 21 und dem Großfluchhafen Berlin – Diese Aktion hätte der NDR vielleicht besser beim ersten Spatenstich für die A100 oder einem ähnlichen Anlass machen sollen.

Zurück zum Kongress

Direkt nach Minister Ramsauer wirkte Michael Groschek (Verkehrsminister NRW)  bei seinem Bekenntnis zu Fahrradverkehr deutlich entschlossener – „Her mit Platz und Geld!“ forderte er engagiert. Sehr spannend war danach der Beitrag von Robin Lester Kenton vom New York City Department of Transportation – Sie stellte locker flockig die Fahrradstrategie ihrer Stadt vor, obwohl die Technik ihre Folien nicht abspielte. NY hat unter anderem 75.000 Helme verschenkt und die Übergabe für Beratung rund ums Rad genutzt, es wurden 200 Meilen neue Radwege und viele Abstellanlagen gebaut, ein Verleihsystem wurde eingeführt. Dazu wurde das Ganze professionell mit Social Media begleitet, die Facebookseite Bikenewyork hat bspw. stolze 13.000 Fans. Von 2007 bis 2011 verdoppelte sich die Zahl der per Rad pendelnden. Ähnlich wie in London macht das Beispiel NY auf mich den Eindruck, es wird kürzer geredet und geplant als hierzulande und dafür mit klarem politischen Willen und angemessenen Mitteln losgelegt. Und auch wenn damit sicher nicht auf einmal alles rosig ist für den Radverkehr – es bessert sich vieles. In Deutschland hat man vielerorts die besseren Voraussetzungen und weiß genau, was nötig ist – der NRVP 2020 ist der beste Beweis – aber statt entschlossen loszulegen, fehlen meist klare Bekenntnisse von oben und die personellen und finanziellen Mittel.

Dass man Frau Lester Kenton extra aus den USA einfliegen ließ, um sie dann am Abend bei der Verleihung des Deutschen Fahrradpreises gute zwei Stunden ohne Übersetzung sitzen zu lassen, erschien mir sinnbildhaft für diese fahrradpolitische Halbherzigkeit und ein bisschen peinlich war es irgendwie auch.

Auch viel Positives

Der Kongress war allerdings an vielen Stellen sehr gelungen, rund 700 Teilnehmende kamen nach Münster. Es gab gut besetzte Foren zu wichtigen Fragen rund ums Rad: Kommunikation, Sicherheit, Tourismus, E-Mobilität, Verknüpfung Rad mit ÖV, Wissensmanagement, Finanzierung, Planung und rechtliche Regelungen (das ganze Programm hier). Mir hat besonders das Forum zur Verknüpfung von ÖPNV und Fahrrad gefallen, weil die Vortragenden sehr viele innovative Ideen für Mobilität abseits vom eigenen Pkw aufzeigten und dabei auch existierende Beispiele nannten, so etwa ein Projekt in Mettingen, bei dem ÖV und Pedelec kombiniert werden (mehr hier). Im Forum zu E-Mobilität wurde die im e-Rad Hafen schon kurz vorgestellte Studie des ILS präsentiert, dazu das DLR- Lastenrad-Projekt „ich ersetze ein Auto“ und der „Pedelec Korridor“ in Berlin.

Fachlich war das Niveau ziemlich hoch, auch aus dem Publikum kamen immer wieder gute Beiträge – in den Pausen und während der Abendveranstaltung gab es zudem genug Raum für Vernetzung und weitere Diskussionen. Essen und Musik am Abend waren ausgezeichnet, die Stände der ausstellenden Verbände und Projekte waren einladend. So gesehen relativieren sich die oben genannten Kritikpunkte.

Was noch?

Im BMVBS gibt es jetzt eine offizielle Fahrradbeauftragte: Birgitta Worringen. Wer allerdings dachte, die Radbeauftragte des Verkehrsministeriums sei NUR dies, täuscht sich. Sie bleibt Leiterin der Unterabteilung Verkehr, der neue Posten ist eine zusätzliche Aufgabe, den sie auf ausdrücklichen Wunsch besetzt.

In ihrem Schlusswort nach dem gut besetzten Abschlusspanel kündigte Frau Worringen an, eine interministerielle Arbeitsgruppe auf Bundesebene ins Leben zu rufen und die Ziele des NRVP weiter zu verfolgen.
So soll es sein. Und statt das Ganze jetzt noch weiter zu kommentieren, gibt es noch ein paar Bilder vom Kongress:

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